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Achterbahn ins Jenseits
Ein schlichtes Motelzimmer in Memphis, Tennessee. Heute ist dieses Lorraine Motel ein Schauplatz für Touristen, denn es wurde blutig Geschichte dort geschrieben… Man begegnet nun auf der Bühne Martin Luther King in Zimmer 306. Er ist allein und „probt“ gewissermaßen die Reden, mit denen er die schwarze Bevölkerung entflammen und die weiße erreichen und aufrütteln will. Man schreibt das Jahr 1968 und der Kampf um die Civil Rights der schwarzen Bevölkerung erschüttert die Vereinigten Staaten. King hätte gerne einen Kaffee, aber es ist fraglich, ob es so spät nachts noch Roomservice gibt.
Und doch, während draußen ein Gewittersturm tobt, klopft es an der Tür und ein Zimmermädchen erscheint mit einem Tablett. Und hier beginnt das erstaunliche, rechtens preisgekrönte Stück der amerikanischen PoC-Autorin Katori Hall erst so richtig. Sie führt die Zuschauer immer wieder in die Irre, schlägt in einer wahren Achterbahnfahrt andauernd neue Themen an – und wagt am Ende wirklich Erstaunliches.
Anfangs ist alles gewissermaßen „normal“, ein berühmter Mann in den besten Jahren (King war damals 39), eine attraktive junge Frau namens Camae, die ohne Schüchternheit mit ihm umgeht und auch ihre Zigaretten mit ihm teilt. Es fällt auf, dass King sich entweder vor Gewittern fürchtet, weil er bei jedem Donner zusammenzuckt, oder einfach immer ein Attentat erwartet, wie sie ihm permanent angedroht werden… Camae erweist sich als tröstend, die beiden flirten gewissermaßen miteinander, und obwohl King zwischendurch seine Frau anruft und sich als liebender Familienvater erweist, würde man sich doch nicht wundern, wenn die beiden gemeinsam im Hotelbett landeten… Aber das wäre doch recht trivial für die letzte Nacht eines Lebens – denn man schreibt den 3. April 1968. Der nächste Tag wird King den Tod aus der Waffe des Kriminellen James Earl Ray finden…
(…) Das Stück ist ein heikler Balanceakt, und Regisseurin Adrienne Ferguson bewältigt ihn mühelos, weil Power und Präsenz ihrer beiden Darsteller außerordentlich sind. Samson Ajewole bringt hoch nuanciert das ganze Charisma eines bedeutenden Menschen ein, der in vielem einfach nur ein normaler, sympathischer Mann ist, und Davida Opoku fegt wie eine kleine Teufelin über die Bühne, mit jedem Satz für eine Überraschung gut. (…)
Renate Wagner
ORF.at
Martin Luther Kings letzte Nacht im Theater
Eine Nacht mit dem Bürgerrechtsaktivisten, Friedensnobelpreisträger und Baptistenprediger Martin Luther King steht im Zentrum der jüngsten Produktion im Vienna’s English Theatre. In „The Mountaintop“ („Der Berggipfel“) nehmen auch spirituelle Themen breiten Raum ein.
Am 3. April 1968 hielt King eine bejubelte Rede mit dem Titel „I’ve Been to the Mountaintop“. Er habe das „gelobte Land“ gesehen und deshalb keine Angst mehr, sagte King. Er trat für einen gewaltfreien Kampf gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit ein. Am 4. April 1968 starb er durch ein Schussattentat. Das Theaterstück setzt nach seiner letzten Rede ein. King ist erschöpft, in einem Hotelzimmer, fern von seiner Familie. Er bestellt eine Tasse Kaffee, die ihm von einer jungen Hotelangestellten aufs Zimmer gebracht wird. Es entspinnt sich ein Flirt mit der frechen und witzigen jungen Frau. Doch die Geschichte entwickelt sich nicht so, wie man es sich vielleicht erwarten würde – mehrere überraschende Wendungen bestimmen die Handlung.
Von Gesellschaftspolitik bis Spiritualität
Die narrative Ebene, das Geschehen zwischen den beiden, ist nur eine von mehreren Schichten dieses komplexen Werks der US-amerikanischen Pulitzer-Preisträgerin Katori Hall. In den ebenso klugen wie schlagfertigen und witzigen Dialogen zwischen den beiden spielt Persönliches natürlich eine Rolle, aber das Themenspektrum geht weit darüber hinaus. Es werden gesellschaftspolitische Fragen behandelt, wie etwa die strukturelle Benachteiligung der afro-amerikanischen Community, Hass, Armut und Gewalt. Aber auch spirituelle Themen nehmen breiten Raum ein: Barmherzigkeit zum Beispiel oder die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit und dem, was (vielleicht) „danach“, im Jenseits kommt.
Plädoyer für die Hoffnung
Katori Hall schafft das Kunststück, schwierige Themen in leichtfüßige, unterhaltsame Dialoge zu kleiden und auch angesichts düsterer Situationen immer wieder äußerst glaubwürdig Ermutigendes einzubauen. Etwa ein zentrales Zitat von Martin Luther King: „Nur wenn es dunkel ist, kann man die Sterne sehen“. Für Hauptdarsteller Samson Ajewole ein auch heute noch bedeutsamer Satz, wie er im Interview mit religion.ORF.at erklärt: „Was ich an dem Stück so schön finde, ist, dass es Hoffnung macht", so Ajewole.
Man könne außergewöhnliche Dinge erreichen, wenn Traditionen, wie sie Martin Luther King begründet hat, weitergeführt werden würden: Wenn man auf bedingungslose Nächstenliebe setze. „Es geht einfach darum, dieses Erbe im Hier und Jetzt zu verwirklichen. Und ich finde, das tun wir auch mit diesem Stück. Deshalb macht es viel Freude, es hierher nach Wien zu bringen“, sagt der Hauptdarsteller.
Figuren wandeln sich
Spannend ist es, die Entwicklung der beiden Figuren im Laufe des Stückes zu verfolgen, die sich durch die Begegnung verändern und aneinander wachsen. Das Zimmermädchen Camae, das immer mehr Lebensklugheit, ja Weisheit erkennen lässt und der umjubelte Prediger, der sich von der öffentlichen Person, der großen Symbolgestalt, hin zum Privatmenschen in einer existenziellen Ausnahmesituation wandelt.
Die Charaktere in „The Mountaintop“ entwickeln sich auf überraschende Weise. Regisseurin Adrienne Ferguson beschreibt es so: „Da ist dieses resolute, junge Mädchen, mit so viel praktischer Lebenserfahrung. Und sie trifft auf diesen akademisch gebildeten Mann. Je mehr sich das Stück entwickelt, desto mehr stehen sie auf Augenhöhe mit einem ganz tiefen Respekt füreinander, jenseits des Flirtens. Und was viele in der Politik derzeit nicht begreifen: diejenigen sind die besten, die von anderen lernen können. Und genau das macht er. Er entdeckt die Demut und er lässt ab von seinem Ego.“
Gelobtes Land ohne Ungerechtigkeit
Wer das so sehen möchte, kann in der Entwicklung dieses Charakters auch Parallelen zu dem sehen, wie die Evangelien Jesus von Nazareth darstellen: das Lernen von den Frauen, der Umgang mit gesellschaftlich Ausgeschlossenen, radikale Liebe gepaart mit hellsichtiger Gesellschaftskritik und die schmerzhafte Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit.
Jesus von Nazareth hielt die berühmte Bergpredigt und Martin Luther King sprach in seiner letzten Rede davon, auf einem Berggipfel zu stehen und das gelobte Land zu sehen: Ein Land ohne Hunger, ohne Krieg, ohne Arm und Reich. Ein Land, in dem die Hautfarbe keinen Unterschied macht. Ein Land, in dem die Nächstenliebe regiert.
Es sind poetische Worte, starke Worte, sagt Hauptdarsteller Samson Ajewole, die er gern dem Publikum mit auf den Weg gibt. „The Mountaintop“ ist ein kluges, vielschichtiges Stück, berührend und mit Witz. Nie betulich, nie salbungsvoll – und radikal ermutigend.
Brigitte Krautgartner